Vor einigen Jahren hatte ich eine Nachhilfeschülerin. Sie wollte an die Pädagogische Hochschule, aber ihr graute vor dem Fach Deutsch – vor allem vor der Literatur. Sie sah keinen Sinn darin, sich mit erfundenen Geschichten abzugeben und las ausschließlich Autobiografien – also wahre Geschichten.
Ich gab ihr DieSchachnovelle von Stefan Zweig.
Eine Woche später kam sie wieder, schwer beeindruckt. „Ist das eine wahre Geschichte?“, fragte sie mich.
Stefan Zweig war bereits im Exil, als er Die Schachnovelle schrieb. Die Schrecken der Naziherrschaft hat er aus der Ferne verfolgt. Die Novelle ist ein Produkt der Kunst, keine Autobiografie. Dennoch hat sie sich für meine Schülerin wahr angefühlt. Und zwar deshalb, weil sie hätte wahr sein können, weil die Gefühle wahr sind. Das Elend, das Ausgeliefertsein, der Kampf des Intellekts gegen eine kalte und grausame Amtsmaschinerie, all das kannte Stefan Zweig aus eigenem Erleben. Das ist die „Wahrheit“ in seinem Text.
Diese findet sich nicht in den Fakten, sondern in den Emotionen, die jede AutorIn nur aus sich selbst schöpfen kann. Das macht die Figur nicht zu ihrem Ebenbild, aber zu einer Möglichkeit ihrer selbst. Milan Kundera (Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins) formuliert das so:
Oder stimmt es, dass ein Autor nur über sich selbst reden kann? (…) Alle diese Situationen habe ich selbst kennen gelernt und erlebt, und trotzdem ist aus keiner die Person erwachsen, die ich selbst in meinem Leben bin. Die Personen meines Romans sind meine eigenen Möglichkeiten, die sich nicht verwirklicht haben. Deshalb habe ich sie alle gleich gern, deshalb machen sie mir alle die gleiche Angst. Jede von ihnen hat eine Grenze überschritten, der ich selbst ausgewichen bin. Erst dahinter beginnt das große Geheimnis, nach dem der Roman fragt. Ein Roman ist nicht die Beichte eines Autors, sondern die Erforschung dessen, was das menschliche Leben bedeutet.
Das ist es, was wir AutorInnen tun. Wir loten die Möglichkeiten menschlichen Handelns aus, gehen über die Grenzen hinaus, die uns das reale Leben setzt, tauchen ein in die Tiefe unserer Gefühle und erforschen das Was-wäre-wenn. Auf diese Weise ist in mancher fiktionalen Geschichte mehr Wahrheit zu finden, als in einer Autobiografie.
Meine Nachhilfeschülerin liest jetzt freiwillig fiktionale Literatur und hat die Aufnahmeprüfung locker geschafft. Ob sie Autobiografien immer noch mag, weiß ich indes nicht …
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