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Emotionen in den Text!

Ich bin ein kopflastiger Mensch. Analysen, gerne auch von menschlichem Handeln, fallen mir leicht. Irgendwann im Verlauf des Schreiben-Lernens habe ich jedoch festgestellt, dass es nicht ausreicht, lediglich zu verstehen, wie die Charaktere funktionieren. Vielmehr ähnelt die Schreiberei in gewisser Hinsicht der Schauspielerei.



Gute SchauspielerInnen lesen nicht nur das Drehbuch, um ihre Rolle zu verstehen. Sie fühlen sich in die Emotionen ihrer Figur ein und machen sie zu ihren eigenen. Gute SchauspielerInnen sind fröhlich, wenn sie lachen und weinen echte Tränen der Trauer. Sie spüren in sich selbst die widerstreitenden Gefühle, ihr Herz krampft sich zusammen, ihr Hals wird eng, ihr Magen kalt. Dadurch, dass sie fühlen, was sie spielen, werden sie glaubwürdig.


Genau das ist der Weg, auf dem auch großartige Texte entstehen: Indem wir uns so tief in unsere Charaktere einfühlen, dass wir ihre Emotionen teilen. Das ist jedoch nicht immer einfach. Je stärker diese Gefühle etwas in uns berühren, das wir nicht preisgeben wollen, desto schwieriger ist es, sich diesen Emotionen anzunähern.


Was also tun, wenn ein Charakter unnahbar bleibt, eine emotionale Szene flach?


Für mich hat sich in solchen Fällen der so genannte Bewusstseinsstrom (engl. stream of consciousness) als wertvolles Werkzeug erwiesen. Das ist eine erzählerische Gedankenwiedergabe in der Ich-Perspektive. Es ist ein Werkzeug, um die eigenen Gedanken oder die des Protagonisten ungefiltert aufs Papier und damit ins Bewusstsein zu bringen.


Beim Bewusstseinsstrom sind drei Dinge wichtig:

· Vergiss alles, was du über korrekten Satzbau und Interpunktion gelernt hast.

· Lass die Gedanken und Worte frei fließen.

· Sei in Gedanken und Gefühl ganz bei deinem Protagonisten.


Mit diesen „Regeln“ im Hinterkopf schauen wir uns ein Beispiel an:

Katharina sitzt auf einer Bank am See. Sie hat vor drei Jahren ihr Kind bei einem Badeunfall verloren. Jetzt beobachtet sie fremde Kinder, die am Wasser spielen.


Als Bewusstseinsstrom könnte diese Szene so aussehen:

Gibt es denn nur diese eine Bank sie ist so nah egal es ist lange her ich kann das schon lange wär ja gelacht Die Sonne ist schön, so warm damals war‘s auch Nein nicht das nicht jetzt wie sie lachen Ein Schrei! Vielleicht ist eins! nein die haben sich nur mit dem Wasser Herrgott meine Nerven und die Eltern schauen die überhaupt? Die dort liest ein Buch wenn ich könnte würd ich die … aber vielleicht ist gar keins ihres wenn ich damals Nein! Nicht jetzt Lars kommt sicher bald bitte komm bald ich möchte hier nicht sitzen warum gibt es nur diese eine Bank?


Wenn ich erstmal erfühlt habe, was im Kopf meiner Protagonistin abläuft, fällt mir die dazugehörige Szene in der Regel leichter:

Katharina zögert, dann setzt sie sich auf die Bank, die einzige in Sichtweite. Steif lehnt sie sich an das Holz, dreht ihr Gesicht der Sonne zu, schliesst die Augen. Vom See her wehen die Geräusche der plantschenden, lachenden Kinder zu ihr herüber - dann ein spitzer Schrei vom Wasser her. Augenblicklich sitzt sie wieder kerzengerade, die Hand ans Herz gepresst. Sie spielen. Sie spielen nur, spritzen sich Wasser ins Gesicht. Katharina lässt den Blick zu den Erwachsenen schweifen, die auf ihren Tüchern in der Sonne liegen. Eine Frau liest ein Buch. Hätte sie damals doch … Katharina klammert ihre Finger um das Holz der Sitzbank. Wenn Lars nur endlich käme, das wäre gut.“


Der Bewusstseinsstrom sensibilisiert für das Timing: Welcher Gedanke kommt zuerst, wie baut sich die innere Argumentation auf, mit welcher Mischung von Gefühlen haben wir es zu tun? Das alles kann helfen, eine Passage emotional reicher zu machen.




Aufgabe 1: Setz dich an einen belebten Ort, wenn möglich im Freien, und schreibe für zehn Minuten alles auf, was dir durch den Kopf geht. Lass unfertige Gedanken unfertig und bemühe dich, möglichst genau und ohne Rücksicht auf Grammatik und Interpunktion das abzubilden, was in deinem Kopf vorgeht.


Aufgabe 2: Nimm eine Textstelle aus deinem aktuellen Projekt, die dir in Bezug auf die Emotionen flach erscheint. Versetze dich in die Lage des Perspektivträgers und schreibe alles auf, was ihm/ihr durch den Kopf geht. Kannst du etwas davon verwenden? Gibt es einen Satz, ein Bild, vielleicht auch nur ein Wort; etwas, das die Passage/Figur einzigartiger und damit dreidimensionaler machen könnte?



Hast du die Technik des Bewusstseinsstroms schon selber ausprobiert?

Ich freue mich über deine Tipps und Kommentare!

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