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AutorenbildNoëmi Sacher

Ist kreatives Schreiben wichtiger als Mathe?

Aktualisiert: 15. Mai 2021

Genau das habe ich behauptet. Und zwar vor einer Klasse von 22 Berufsschülern; alles junge Männer, die einen mathematisch-technischen Beruf anstreben. Zur Antwort bekam ich Geraune und verhaltenen Protest. Ich blieb dabei: Geschichten verstehen und Geschichten schreiben ist mehr als Unterhaltung. Es ist Lebensschule.


Du glaubst mir nicht? Dann begleite mich auf eine Reise in die Vergangenheit.




Mit Sicherheit gab es in deinem Leben Momente oder Ereignisse, die es für immer verändert haben. In der Kindheit waren das vielleicht ein Umzug, ein Schulwechsel, eine neue beste Freundin, ein Unfall; später im Leben vielleicht ein neuer Job, eine Schwangerschaft, eine Krankheit, eine Trennung oder eine neue Beziehung, eine Erbschaft oder auch nur ein Satz, den jemand dir zum genau richtigen Zeitpunkt gesagt hat. Diese Momente sind für jeden von uns ganz unterschiedlich, aber allen ist gemeinsam, dass sie das Leben in ein Vorher und ein Nachher teilen.


AutorInnen nennen diese Momente Auslöser oder auch die Prämisse der Geschichte. Der Auslöser zwingt die Figur zum Handeln. Sie könnte nicht einfach die Hände in den Schoss legen und abwarten. Das heisst: Sie kann. Aber die Ereignisse um sie her werden ihren Lauf nehmen und sie immer tiefer und unentrinnbarer in den Strudel der Geschehnisse ziehen. Die Frage ist also nicht, ob sich etwas verändert. Die Frage ist: Was verändert sich?


In einer (guten) Geschichte verändert sich die Figur. Sie nimmt die Herausforderung an, sie kämpft, sie verzweifelt, sie scheitert – und steht wieder auf. Sie entwickelt sich weiter und oft genug erringt sie einen Sieg. Nicht weil die Geschichte dann mehr LeserInnen findet, sondern weil die Figur bis zum Äussersten und darüber hinaus gegangen ist.


Im richtigen Leben verändert sich manchmal nur unser Innenleben. Oft genug nehmen wir die Herausforderung nicht an, werden mutlos, traurig und ziehen uns zurück. – Bis irgendwann (manchmal erst nach Jahren) der Druck zu gross wird und unsere psychische oder körperliche Gesundheit Schaden nimmt. Dann (spätestens) ist es Zeit sich zu erinnern, dass wir selbst die HeldInnen unserer Geschichte sind. Den Auslöser können wir nicht ändern – der wird uns quasi auf den Leib geschrieben. Aber wir können bestimmen, wie wir darauf reagieren.


Im Schreiben wird diese Kette – Auslöser, Reaktion, persönliche Entwicklung – nicht nur alle Jubeljahre, sondern täglich sichtbar. Als AutorInnen bringen wir die Figur in Schwierigkeiten. Wir beobachten genau, wie sie sich verhält. Wir deklinieren ihren Handlungsspielraum rauf und runter und suchen nach kreativen und spannenden Lösungen. So schreiben wir nicht nur gute Geschichten, wir trainieren auch unser Hirn auf die Veränderungen, die das Leben mit sich bringt, und legen den Ausgang in die Hände der HeldInnen.


Wie die Figur in einer guten Geschichte können wir auch im richtigen Leben die Herausforderung annehmen, wenn nötig bis zum Äussersten gehen und einen Sieg erringen. Wer das lernt, lebt nicht nur leichter, sondern auch selbstbestimmter.


Und das, finde ich, ist wichtiger als Mathe.

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