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  • AutorenbildNoëmi Sacher

Geschichten weben Teil 1

Aktualisiert: 12. Nov. 2021

Ich liebe Webstühle. Diese großen schweren Dinger aus Holz, die einen ganzen Raum füllen. Ich liebe die Geräusche. Das leise Schleifen des Schiffchens und Schaben des Fusspedals, das die Fäden neu auffächert. Ich liebe die Farben der Fäden und die unglaubliche Geduld, die hinter dieser Arbeit steht.


Vor Jahren habe ich ein paar Semester Ethnologie studiert und viel dabei gelernt – Nützliches und anderes. Zu dem eher unnützen Wissen aus diesem Studium zählt die Unterscheidung zwischen Kett- und Schussfäden. Die Kettfäden sind auf dem Webstuhl aufgespannt. Sie bleiben immer gleich. Wählt die WeberIn rote Kettfäden, dann wird das ganze Gewebe einen Stich ins Rote haben. Der Schussfaden jedoch ist auf dem Schiffchen aufgehaspelt und – wenn die WeberIn ihn wechselt – für die farbigen Muster verantwortlich.


Hat das mit dem Schreiben zu tun?

Ich sitze gerade an einer neuen Geschichte, das erste Mal unter Zeitdruck. Die Geschichte soll gut werden, ganz klar, also muss ich mich noch intensiver als sonst damit auseinandersetzen, was das genau ist, das eine Geschichte gut macht. Dabei hilft mir die Vorstellung, dass die Geschichte einer Webarbeit gleicht.



Je kürzer die Geschichte ist, desto enger sollte sie gewoben sein. Das heißt, desto wichtiger sind die Kettfäden. Sie sind die Konstanten, die gleichbleiben und gerade dadurch die Veränderungen der Figur aufzeigen.


Ein Beispiel aus einer meiner Lieblingsgeschichten, dem „Parzival“:

Parzivals Vater ist ein berühmter Ritter, der im Kampf zu Tode kam. Seine Mutter, durch den Verlust schwer traumatisiert, zieht ihren Sohn in der Einsamkeit des Waldes auf. Auf diese Weise, so hofft sie, wird er nie vom Rittertum erfahren und immer bei ihr bleiben. Man ahnt schon (nicht erst seit Sigmund Freud), dass das nicht gut ausgeht.

Parzival, der das wilde Herz seines Vaters geerbt hat, geht als Kind im Wald spazieren und hört die Vögel singen. Der Gesang entfacht in ihm eine schmerzhafte Sehnsucht. Er weiß allerdings nicht, nach was. Traurig läuft er zu seiner Mutter und erzählt ihr von seinem Schmerz. Daraufhin befiehlt die Mutter ihren Dienern, alle Vögel zu töten.

Die Vögel stehen in dieser Geschichte stellvertretend für die Sehnsucht oder für die Berufung, zu der die Figur geboren ist. Wäre der „Parzival“ kein mittelalterliches Epos und ich die Autorin, würde ich diese Berufung zu einem Kettfaden meiner Geschichte machen.


Oder anders gesagt: Wenn ich am Anfang meiner Geschichte ein solches Bild entdecke (und das ist tatsächlich oft ein Entdeckungsprozess: ein Bild, ein paar Worte, die jemand sagt, ein Gegenstand, ein Tier, ein Motiv, das unbeachtet in die Geschichte geraten ist), dann nehme ich es an einer späteren Stelle wieder auf.


Als junger Ritter könnte Parzival die Vögel wieder hören. Allerdings wird er sie, da er sich schon am Ziel seiner Träume glaubt, kaum wahrnehmen. Später, wenn er gebrochen und am Leben gescheitert wieder durch einen Wald reitet, spürt er beim Vogelgezwitscher die gleiche Sehnsucht wie als Kind. Aber da er nun älter ist, wird er nicht nur den Schmerz empfinden, sondern ihn auch zuordnen: das Wort Sehnsucht fällt ihm ein, vielleicht Einsamkeit. Vielleicht wird er in seinem Elend selbst nach dem Bogen greifen und einen besonders lauten Vogel töten, obwohl er als Kind gegen das Handeln der Mutter war. Am Ende der Geschichte, wenn er seiner Berufung folgt, kann er sich endlich über den Gesang der Vögel freuen.


Wichtig dabei ist: das Motiv, also der Kettfaden, bleibt gleich. Die Vögel verändern sich nicht. Sie singen ihr Lied. Was sich verändert ist die Wahrnehmung oder die Handlung der Figur. Je mehr Kettfäden meine Geschichte hat, desto dichter wird sie.


Wenn ich also meine Geschichte besser machen will, dann suche ich nach losen Fäden. Vielleicht finde ich ein Pferd, das auf der Weide steht, meine Figur nimmt es zunächst kaum wahr. Dann taucht das Pferd wieder auf, diesmal als Hinweis für eine Wegbeschreibung. In einer späteren Szene wird das Pferd eine Schlüsselrolle bekommen. Sein Wesen als Fluchttier verbindet es mit meiner Figur. Auch sie ist schreckhaft, möchte fliehen – und muss lernen, den Pferdeanteil in sich zu überwinden oder besser: für sich zu nutzen.


Ob es gelingt, weiß ich noch nicht. Ich bin noch im Prozess. Auch schreiben braucht Geduld, wie das Weben.


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