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  • AutorenbildNoëmi Sacher

Das Ei des Kolumbus

Show don´t tell. Dieser Satz wird in zahlreichen Schreibratgebern als Ei des Kolumbus für gutes Schreiben beschworen. Als etwas, das ganz einfach ist und quasi schon erledigt, wenn man den Satz auf einen Zettel schreibt und ihn dann an den Bildschirm klebt.


Eine gute Idee, grundsätzlich. Nur hilft das eben erst, wenn man versteht, was das eigentlich bedeutet: Zeigen, nicht behaupten.



Einmal, so geht die Legende, saß Kolumbus mit spanischen Adligen beim Abendessen. Es wurde Nacht, die Diener nach mehr Wein geschickt und die Gespräche laut. „Was du da angeblich geleistet hast, Christoph“, sagte einer mit schwerer Zunge, „das hätte jeder tun können!“ Er wandte sich an die anderen: „Geradeaussegeln kann ja wohl jeder!“ „Sag lieber: den Befehl zum Geradeaussegeln geben“, johlte einer, der schon doppelt sah. Kolumbus widersprach nicht. Er nahm nur ein gekochtes Ei und forderte die Anwesenden auf, es mit der Spitze voran auf den Tisch zu stellen, so dass es stehenbleiben würde. Mit der Zunge zwischen den Lippen und zusammengekniffenen Augen versuchte es einer nach dem anderen. Einer nach dem anderen scheiterte. „Das ist unmöglich“, rief einer, der bisher noch nichts gesagt hatte. Kolumbus nahm das Ei zerschlug, die Spitze auf dem Tisch und stellte es auf die Delle, wo es einwandfrei stehen blieb. „Ja so ist es einfach. Das hätten wir auch gekonnt!“, riefen die anderen. Kolumbus lächelte. „Der Unterschied ist, meine Herren, dass Sie es hätten tun können, ich hingegen habe es getan.“

In dieser Anekdote geht es genau darum: Um das Zeigen. Kolumbus hätte seinen Satz schon vor der Eierprobe zum besten geben können, aber seine Wirkung entfaltet er erst, nachdem Kolumbus bewiesen – oder eben gezeigt hat, dass auch offensichtliche Lösungen erst mal gefunden werden müssen. Und dass es dafür Mut und eine unkonventionelle Denkweise braucht.


Wie geht das aber nun im Text, das Zeigen? Schauen wir uns ein Beispiel an:

Seit seine Frau ihn verlassen hatte, war Carl nicht mehr derselbe. Er hasste Gesellschaft, seinen Job, und sein ganzes elendes Leben.

Die Figur stammt aus dem Film Der Ja-Sager mit Jim Carrey und der Abschnitt ist reines tell, also eine Behauptung. Als Leserin verstehe ich zwar, was mit Carl los ist, aber ich habe mich nicht mit eigenen Augen davon überzeugen können, dass es wahr ist. Ich habe es nicht erlebt.


Wenn wir diese beiden Sätze in ein show umwandeln, also zeigen bzw. erlebbar machen wollen, müssen wir als erstes herausfiltern, welche Informationen darin enthalten sind:

  • Seine Frau hat ihn verlassen.

  • Er hat sich verändert.

  • Er trifft sich mit niemandem freiwillig.

  • Er hasst seinen Job.

Oder kurz gesagt: Carl geht es richtig schlecht.


Spielfilme eignen sich besonders gut, um show von tell zu unterscheiden, weil FilmemacherInnen überhaupt nur zeigen können – also gezwungen sind, Bilder oder Szenen zu finden, welche die nötigen Informationen vermitteln. Im Beispiel von Der Ja-Sager wird das folgendermaßen gelöst:


Seine Frau hat ihn verlassen. Carl sitzt wider Willen mit seinen Freunden im Club, da sieht er seine Ex-Frau knutschend an der Bar stehen. Carl will den Raum sofort verlassen, obwohl sie gerade erst gekommen sind. Seine Ex-Frau entdeckt ihn und stellt ihm ihren neuen Freund vor. Carl wendet sich überstürzt ab, um der Situation zu entgehen und stößt dabei eine Kellnerin um, die ein volles Tablett trägt.

Damit gelingt es den Filmemachern einerseits zu zeigen, dass Carl von seiner Frau verlassen worden ist und andererseits zeigen seine fahrigen Ausflüchte und seine Unbeholfenheit, dass ihn die Situation enorm aufwühlt – er die Trennung also noch nicht überwunden hat.


Er hat sich verändert. Carl bekommt Besuch von seinem besten Freund. Er hat dessen Verlobungsparty verpasst. Sein Freund wirft ihm nicht nur vor, dass er sich zurückzieht, sondern teilt ihm mit, wie sehr es ihn verletzt, dass seine Verlobte seinen besten Freund nicht leiden kann.

Im Film wirkt Carl so empathielos, dass es verwundert, dass er überhaupt einen Freund hat, der sich um ihn bemüht. Als Zuschauerin verstehe ich dadurch, dass Carl früher anders gewesen sein muss.


Er trifft sich mit niemandem freiwillig. Carl drückt alle Telefonanrufe weg und verbringt jeden Abend vor dem Fernseher. Er nimmt keine Event-Flyer entgegen und wimmelt seine Nachbarin ab, die ihn zum Frühstück einladen will.


Er hasst deinen Job. Carl arbeitet auf der Kreditabteilung einer Bank. Seine Kunden kommen hoffnungsvoll und mit großen Träumen zu ihm. Er hört ihnen gar nicht richtig zu und lehnt ausnahmslos jeden Kredit ab.


Jetzt zeigt sich auch ein wesentlicher Unterschied zwischen dem narrativen tell und dem szenischen show. Zeigen braucht viel mehr Platz als erzählen. Was vorher in zwei Sätze gepasst hat, benötigt nun viel mehr Raum, bzw. mehrere Szenen.


Lass uns nun zum Beispiel zurückkehren, aber unter der Annahme, dass es den Film und seine Lösungen nicht gibt. Um ins Zeigen zu kommen hilft es, sich an die Stelle von Carls bestem Freund zu versetzen – oder besser an die Stelle eines unsichtbaren Geists, der ihn rund um die Uhr beobachten kann. Woran würden wir erkennen, dass die Informationen, die wir aufgelistet haben, zutreffen?


Die Möglichkeiten sind unendlich und hängen sehr stark von der Figur ab, die wir gewählt haben. Carl könnte beim Aufräumen ein Hochzeitsfoto finden und es zerreißen. Er könnte einen Brief an seine Exfrau schreiben und ihn anschließend verbrennen. Er könnte das Klingeln an der Tür ignorieren, seine Post nicht leeren, auf Internetseiten von Auswanderern stöbern, sich betrinken, das Essen in seinem Kühlschrank vergammeln lassen, in unangemessenen Kleidern zur Arbeit erscheinen …


Das Geheimnis des Zeigens ist es, dir vorzustellen, wie sich die Stimmung deiner Figur manifestiert: Woran siehst du, dass es Carl schlecht geht? Woran zeigt es sich? Welche Details wählst du?


Carl stellte den Subwoofer ein und drehte die Lautstärke auf 120 Dezibel. Die Bässe ließen den Boden vibrieren, betäubten seine Ohren und seinen Körper. Er zog die Schublade auf, hob den Stapel mit den Briefen heraus und legte ihn auf den Tisch, so vorsichtig, als wären die Seiten aus brüchigem Pergament. Die Hochzeitseinladung lag zuoberst: er mit verschmitztem Blick, Stefanie lachend und mit geschlossenen Augen. Er nahm die Karte und zerriss sie am Lineal in regelmäßige Streifen, dann die Streifen in Quadrate. Die Quadrate faltete er zu zusammen, einmal längs einmal quer. Ein Klopfen an der Wohnungstür. Clara von unten, zweifellos. Er fegte die gefalteten Quadrate mit der Handkante zu einem Haufen. Als nächstes die Postkarte aus Japan. Sie hatte Herzen draufgemalt, genau elf. Er fühlte das Reißen des Papiers mehr, als dass er es hörte. Das Klopfen an der Tür wurde zum Wummern und machte dem Subwoofer Konkurrenz. Dann der Brief zu ihrem Jahrestag. Sie hatte ihn mit roter Tinte geschrieben. Das Papier war dünn, es ging ganz leicht: Streifen, Quadrate, gefaltete Quadrate. Clara rief etwas durch die Tür. Es klang besorgt. Er fegte die neuen Quadrate auf den Haufen.

So könnte es aussehen, wenn es Carl schlecht geht – oder auch ganz anders.


Probier es aus! Tu es! Genau wie Kolumbus das Ei zerschlagen hat.

Jeder hätte das gekonnt, aber keiner hat es vor ihm getan. – Und genau das hat Kolumbus mit dem Beispiel gezeigt.


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