Was ist Mut?
Mut ist, wenn man mutig ist. Oder?
Jede von uns hat eine ganz klare Vorstellung davon, was das bedeutet. Nämlich: Ich fürchte mich vor etwas – und mache es trotzdem.
Das klingt so einfach, aber wir alle wissen: Mutig sein ist schwierig. Warum das so ist, habe ich mir neulich in einem Video von Peter Levine erklären lassen, dem Begründer von „Somatic Experiencing“, einer körperorientierten Traumatherapie. Ich geb’s zu, die genauen Zusammenhänge im Hirn kann ich hier nicht mehr rekapitulieren, aber ich habe verstanden: Wenn ich nicht mutig bin, ist das ein Problem und zwar, weil in meinem Körper so einiges abläuft.
1. ich stehe vor einer Herausforderung (die deswegen eine ist, weil sie mir Angst macht)
2. ich nehme die Herausforderung nicht an (entscheide mich dagegen, sie anzunehmen)
3. die Gefahr ist vorbei (ich bleibe in meinem gewohnten Rahmen)
4. mein Hirn sendet belohnende Botenstoffe aus (weil ich der Gefahr erfolgreich entronnen bin)
5. ich fühle Erleichterung
6. ich lerne: Herausforderungen verweigern ist angenehm
Das Problem ist offensichtlich: Mein Körper belohnt mich dafür, dass ich Herausforderungen aus dem Weg gehe. Das mag ja evolutionsgeschichtlich gute Gründe haben (das mit dem Säbelzahntiger und so), ist aber hinderlich, wenn ich im Alltag mutig sein will. Denn wogegen ich eigentlich ankämpfe, ist nicht die Herausforderung im Außen – ich kämpfe gegen mein eigenes System.
Nun kommt hinzu, dass Herausforderungen nicht universell sind, wie zum Beispiel die Regeln der Mathematik, sie sind im Gegenteil ein individuelles Empfinden, basierend auf unseren vergangenen Erfahrungen.
Wenn mich mein System schützen will.
Nehmen wir zum Beispiel Lena, 35, Single. Sie ist zur Hochzeit ihrer besten (und einzigen) Freundin Claudia eingeladen und möchte da natürlich hin. Aber Lena ist ein introvertierter Mensch mit wenig sozialen Kontakten. Außer Claudia kennt sie niemanden an der Feier, aber klar: ihre Freundin kann nicht den ganzen Abend mit ihr verbringen. Und obwohl zwischen Champagner und Häppchen niemand ein tödliches Attentat auf Lena geplant hat, fürchtet sie sich.
Im Außen gibt es nichts, was Lena daran hindern würde, sich zu einer Gruppe Menschen zu gesellen und an ihrem Gespräch teilzunehmen. Klaus zum Beispiel, der auch keinen kennt, hat sich direkt die Brautführerin gekrallt und unterhält sich seit zwei Stunden sehr angeregt mit ihr. Was Lena hindert, spielt sich allein in ihrem Inneren ab.
Lenas Verstand, zuständig dafür, sie vor allem möglichen Ungemach zu schützen, hält ihr schon seit Tagen lange Vorträge darüber, wie in der Vergangenheit Gespräche auf Partys schiefgelaufen sind. Wie peinlich das zum Beispiel war, als Onkel Otto sie auf dem Geburtstag ihrer Mutter gefragt hat, ob sie meine, sie sei was Besseres, weil sie noch immer keinen Mann hat. Lena erinnert sich schaudernd, wie die Gespräche rundherum verstummt sind, und ihr Gesicht heiß geworden ist. Etwas Ähnliches möchte sie auf keinen Fall wieder erleben. Also entscheidet sie sich, unauffällig hinter dem üppigen Blumenbouquet zu verschwinden. Ihr Körper schüttet zur Belohnung Dopamin aus, weil sie sich der Gefahr eines Gesprächs entzogen hat, sie fühlt Erleichterung und wenn die Hochzeit vorbei ist und Lena mit keinem gesprochen hat, wird ihr Gehirn ihr suggerieren, dass die Strategie erfolgreich war (es gab ja keinen Onkel-Otto-Moment).
Also echt. Wenn ich darüber nachdenke, dann klingt das für mich wie ein abgekartetes Spiel, in dem wir (von mir aus in der besten Absicht) von unserem eigenen Körper manipuliert werden! Und zwar dahingehend, nicht mutig zu sein. Nichts Neues zu wagen. Stehen zu bleiben. Alles wie immer zu machen.
Lass uns das verhindern!
Im richtigen Leben, aber vor allem in unseren Geschichten.
Mut ist eine der wichtigsten Eigenschaften für eine Figur. Denn Mut ist der Antrieb für die persönliche Entwicklung. Diese Entwicklung ist die Grundbedingung dafür, dass die Geschichte für meine LeserInnen interessant ist.
Wenn Lena meine Romanfigur wäre, würde ich sie nicht mit dem Versteck hinter dem Blumenbouquet davonkommen lassen. Denn sie ahnt ja nicht, was ich weiß, nämlich dass Klaus von seiner Oma ein altes Bauernhaus geerbt hat. Am Waldrand und vom Zerfall bedroht. Und dass er es ihr für einen Apfel und ein Ei verkaufen wird, denn Klaus ist zwar charmant, aber seine Interessen gehen eher in Richtung Ballermann und Strandurlaub. Dieses Haus aber wird die Grundlage für Lenas Glück sein. Wenn du darauf bestehst, dann sogar mit Liebesgeschichte. (Nicht mit Klaus! Um Himmels willen!)
Die Frage ist also: Wie kann ich Lena hinter den Blumen hervorlocken?
Eines ist klar: Mutige Heldinnen sind die einfacheren Heldinnen. Sie machen es mir leicht. Ich muss sie nicht davon überzeugen, dass es gut ist, die eigenen Grenzen zu verschieben. Sie tun es freiwillig. Aber auch schüchterne Heldinnen können zu mutigen Heldinnen werden. Sie müssen nur wissen, was es für sie zu gewinnen gibt (und das auch wirklich, wirklich wollen) oder zumindest ahnen, was auf dem Spiel steht, wenn sie die Herausforderung ablehnen (und das wirklich, wirklich nicht wollen).
Lassen wir also Lena nicht hinter das Blumenbouquet, sondern auf die Toilette fliehen. Dort wird bestimmt auch bald die Brautführerin auftauchen. Nennen wir sie Svenja. (Lena mag sie nicht. Sie wäre ja selbst gerne Brautführerin gewesen, hat aber abgelehnt, als Claudia sie gefragt hat.) Und Svenja wird vor dem Spiegel ihr Make-up aufbessern und dabei ihrer Freundin Daniela mit Ekel in der Stimme von diesem Haus erzählen (Alles voller Küchenschaben! Und das Dach ist undicht!), das der arme Klaus nun an der Backe hat. Und dass er erwägt, das Ding in Brand zu stecken, um seine Ruhe zu haben (und das Geld).
Aber aus dem Gespräch wird auch klar, welches Haus das ist. Lena kennt es. Schon lange. Es ist ihr Traumhaus. Nicht sehr groß, ruhig gelegen, dahinter der Wald. Ein Paradies. Sie muss dieses Haus retten!
Wie Lena es anstellt, Klaus in ein Gespräch zu verwickeln, ergibt sich aus ihrem Charakter. Also daraus, wozu sie unter Aufbietung all ihrer Fähigkeiten und Potenziale in der Lage ist. Meine Aufgabe ist es, es ihr so schwer wie möglich zu machen. Sonst ist die Geschichte erstens viel zu schnell vorbei und zweitens gilt: je größer die Herausforderung, desto größer die Spannung.
Klaus wird sich also schon verabschiedet haben, bevor Lena die Toilette verlässt. Und wahrscheinlich wird sie viele Pläne schmieden (und wieder verwerfen) müssen, ehe sie tatsächlich zur Tat schreitet. Aber sie wird sich ihrer Furcht stellen, weil ihr brennendster, dringendster Wunsch sie antreibt.
Mit Klaus sprechen, ihn anrufen, an seiner Haustür klingeln, all das sind Dinge, die den meisten Menschen als erstes einfallen würden. Aber Lena weiß, dass sie niemals die richtigen Worte finden würde. Sie muss etwas tun. Etwas, das Klaus sieht. Das zeigt, wie sehr ihr an diesem Haus gelegen ist, ohne dass sie es sagen muss. Vermutlich wird Lena das Haus besetzen. Jede Nacht wird sie in banger Furcht durchwachen. Denn jede Nacht könnte diejenige sein, in der Klaus seine düsteren Drohungen wahr macht und Feuer an das Fundament legt. Aber das wird Lena verhindern.
Wir alle kennen das Gefühl von Herausforderungen, die (auf den ersten … oder den zweiten Blick) zu schwierig sind. Das Gefühl, dass es leichter ist, den Kopf in den Sand zu stecken und alles wie immer zu machen. Unsere Körper haben dieses Spiel schon tausend Mal erfolgreich mit uns gespielt. Und genau darum berühren uns Geschichten von ProtagonistInnen, die (weit) über ihre Grenzen hinausgehen. Wir sehen plötzlich, dass es Wege gibt, das eigene System zu überwinden. Das inspiriert uns dazu, unser Leben neu zu beurteilen. Und genau darin liegt der Wert von Geschichten.
Also lass uns unsere Figuren das Fürchten lehren! Die halten das schon aus. Und wir bekommen die Gelegenheit, zusammen mit unseren ProtagonistInnen wahren Mut zu üben.
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