Vor Jahren habe ich eine Geschichte geschrieben. Sie war als Kunst gedacht. Als Experiment, um meine Fähigkeiten auszuloten. Ansonsten hatte sie nichts mit mir zu tun.
Im Rückblick sehe ich, wie falsch ich mit dieser Einschätzung lag.
Letzte Woche habe ich beim Joggen einen Podcast gehört, in dem es um die verschiedenen Persönlichkeitsanteile geht, genauer um das Kind-Ich und das Eltern-Ich in uns. Spannend daran fand ich, dass Erfahrungen, die wir als Kind gemacht haben, auch als kindliche Erinnerungen abgespeichert sind. Das führt zum Beispiel dazu, dass mit schlechten kindlichen Erfahrungen auch Gefühle wie Hilflosigkeit oder Ausgeliefertsein verknüpft sind. Unser damaliger Wissensstand und die damalige Erkenntnis- und Reflexionsfähigkeit sind also quasi zusammen mit den Gefühlen und der Erinnerung zu einem Paket verschnürt.
Die Geschichte, die ich damals schrieb, gehört gefühlsmäßig in meine Jugend – eine Zeit, in der ich mich weder selbst spürte noch gesehen fühlte. Und obwohl mein erwachsenes Selbst längst glaubte, darüber hinwegzusein, erzählte das schreibende Selbst in deutlichen Worten von der Verunsicherung und meiner Unsichtbarkeit. So hat die Geschichte nicht nur eine jugendliche Erinnerung abgebildet, sondern auch eine Krise vorweggenommen, die ich erst einige Jahre später durchlebte – als die Gefühle von damals wieder durch die Oberfläche brachen.
Schreibend, so kann ich schlussfolgern, finde ich also für Themen einen Ausdruck, die meiner bewussten Wahrnehmung nicht zugänglich sind. Die Welt des Selbstausdrucks ist wie ein Tanz mit geschlossenen Augen. Wir bewegen uns nur halb bewusst und überlassen uns dem Gefühl – einem der vielen Gefühle – die auf unserer Lebensleiter abgespeichert sind. Und manchmal gelingt es uns, eines unserer früheren Selbst kennen zu lernen und vielleicht sogar zu heilen.
Das geht nicht nur mir so.
Neulich sprach ich mit einem Opfer extremer, frühkindlicher Gewalt. Jahrelang schlummerten ihre Erinnerungen im Unbewussten und fanden nur beim Filmen und in der Malerei Ausdruck. Heute zeigt sich, dass sie wohl vor allem darum psychisch gesund blieb, weil ihr Inneres durch die Kunst einen Weg gefunden hat, einen Teil dieser Schrecken zu verarbeiten.
Schreiben ist so viel mehr als Worte aneinanderreihen. Es ist eine Chance, uns selbst besser kennenzulernen und alte Erfahrungen neu einzuordnen. Ich bin froh, dass ich das nutzen – und vermitteln kann.
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