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AutorenbildNoëmi Sacher

Bloß keine Fotos von mir!

Ich bin blind auf dem rechten Auge. Darum hasse ich Fotos, auf denen ich drauf bin, und Fotos, die von mir gemacht werden sollen.

Sie treffen einen wunden Punkt, denn dann sehe ich, was alle sehen: dass meine beiden Augen nicht in die gleiche Richtung schauen. Ist ja nicht schlimm. Eigentlich. Ich meine: dann halt nicht. Oder? Stört ja niemand.


Mich schon.

Weil es mich an Dinge erinnert, an die ich nicht erinnert werden will. Und so ist das schon seit Jahren ein Thema, um das ich einen großen Bogen mache. Bis heute.


Ab heute will ich in meinem Leben Heldin sein.

Als Kind hat es mich nie gestört, dass mein eines Auge blind ist. Im Gegenteil: Ich war anders als die anderen, und das fand ich gut. Ich war ein fröhliches (vielleicht ein wenig seltsames) Kind und hatte natürlich meine Probleme (zum Beispiel eine rasende Panik vor unbekannten Situationen), aber dass ich schiele, gehörte nicht dazu. Darauf war ich stolz.


Doch dann kam der Wechsel in die Oberstufe. Ich verlor meine Freundinnen an andere Schulhäuser, hatte Mühe, wieder Anschluss zu finden und landete in der Gruppe der Außenseiterinnen. Ich weiß nicht mehr viel über diese Zeit. Aber ganz deutlich ist die Erinnerung an einen bestimmten Tag: Wir standen in der Pause vor der Turnhalle. Ich sehe den Ort noch heute ganz klar vor mir. Wir standen zu dritt beisammen: Bea, Maria* und ich. Worüber wir gesprochen haben, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß, dass ich eine abschätzende Bemerkung gemacht habe. Über Maria, die damals schon übergewichtig war (und noch heute darunter leidet). Und sie hat sich gewehrt. Sie sagte zu mir: „Hör auf mich zu mobben, sonst mobbe ich dich auch wegen deinem Auge.“


Der Hieb saß! Mein Auge? Das sollte ein Grund sein, mich mobben zu können!? Auf mein blindes Auge war ich doch stolz! Das war ein Teil von mir. Das machte mich besonders!

Offensichtlich war ich die ganze Zeit von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Alle anderen hatten gesehen, wie komisch ich aussah. Nur ich hatte es nicht bemerkt.


Ich hatte den Apfel vom Baum der Erkenntnis gepflückt. Und mit ihm die bange Frage: Was kommt als nächstes? Welche Mängel würden die anderen noch an mir entdecken? Ich wollte es nicht wissen. Das Risiko war mir zu groß. Ich wurde still. Ich machte mich unsichtbar. Für lange Zeit.


Mit 18 ließ ich mein Auge kosmetisch korrigieren. Der Eingriff war äußerst schmerzhaft, aber für ein paar goldene Jahre schauten beide Augen aus dem Spiegel zurück zu mir. In dieser Zeit habe ich meinen Mann kennengelernt und mich (vorübergehend) gemocht – zumindest äußerlich. Doch allmählich dehnten sich die künstlich verkürzten Muskeln wieder und ich beschloss: Es ist mir egal. Es ist egal, wie ich aussehe. Es ist mir egal, was die anderen von mir denken – oder ich von mir selbst.


Nur: Das ist nicht wahr.

Jedes Foto, auf dem ich schiele (also jedes), erinnert mich an die Scham. Scham darüber, dass ich mutwillig verletzt habe – und Scham darüber, dass ich verletzt worden bin. Es erinnert mich an 20 Sekunden, die mein Leben für immer verändert haben.

Niemand außer mir hat die Veränderung bemerkt. Und niemandem außer mir ist sie im Gedächtnis geblieben.


Erst vor kurzem ist mir in einem Gespräch über Fotos bewusst geworden, dass ich bis heute versuche, diesen Teil von mir zu verbergen. Nicht weil ich eitel bin, sondern wegen einer einzigen Bemerkung, auf die eine fatale Entscheidung folgte. Sollte dieser Augenblick wirklich bis heute Macht über mich haben? Nein. Ich habe all meinen Mut zusammengenommen (das hat ein paar Tage gedauert) und heute Fotos von mir gemacht.


Das erste Mal seit Jahren mit dem Vorsatz, alles von mir zu zeigen. So wie ich bin.

Es ist der tiefste Punkt auf einer Reise, die schon seit mehr als zwanzig Jahren andauert. Vom Tag eins vor der Turnhalle bis hierher. Es ist der Punkt, an dem all die unterdrückten Gefühle wieder hochkommen. Der Tag, an dem ich hier sitze und weine, wegen all der Zeit, die ich in der Scham gefangen war. Es ist der Tag der Wende, an dem ich sehe, dass ich schöner bin, mit allem von mir. Der Tag, an dem ein lange verlorener Teil zu mir zurückgekehrt ist. Heute habe ich wahrhaft verstanden, dass ich nur ganz sein kann, wenn ich mit neuem Stolz annehme, was zu mir gehört. Auch wenn es schwierig ist. Gerade weil es schwierig ist. Weil es Überwindung kostet und schmerzt.


Manche Heldinnenreisen dauern Wochen, manche Jahre, manche ein ganzes Leben. Und in jeder Reise liegt ein Geschenk verborgen. Du hast bis hierhin gelesen. Dann hat diese Reise mir vielleicht das Geschenk gemacht, dich berühren zu können. Obwohl das, was tatsächlich geschehen ist, nur ein kleines Ereignis war.


So ist das mit den Heldenreisen.

Manchmal beginnen sie mit großem Getöse, aber manchmal eben auch ganz still und unbemerkt. Manchmal ist es so, dass die Menschen rundherum sagen: Das ist wirklich schlimm (oder großartig), was ihr zugestoßen ist. Und manchmal geschieht etwas Unscheinbares, das nur für diesen einen Menschen eine Kette von Ereignissen in Gang bringt. Eine Kette von Ereignissen, die ein Leben für immer verändern.


Du spielst die Hauptrolle in deiner Geschichte. Das, was für dich von Belang ist, bestimmt die Handlung. Denn auch du bist unterwegs und warst es schon viele Male.


Lass uns zusammen auf deine Heldinnenreisen schauen. Lass uns zusammen die Geschenke auspacken. Lass uns teilen, was uns stark gemacht hat, denn nicht das, was tatsächlich geschieht – oder geschehen ist – hat die Kraft zu berühren. Was andere berührt, sind die Geschichten, die wir darüber erzählen.





Und wenn du jetzt Lust bekommen hast, die Heldin in deinem Leben zu werden, dann schau unbedingt hier vorbei!


*Namen geändert

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