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AutorenbildNoëmi Sacher

Die Frage nach der Frage

Glaubst du an Geschichten? Darauf, dass sie einen Einfluss auf unser Leben haben?


Ich meine, klar: Wir alle kennen Bücher, die uns beeinflusst haben, ohne die wir nicht zu denen geworden wären, die wir sind. Aber für mein Leben gibt es eine Geschichte, die quasi mein Leitstern ist. Wenn ich gefragt werde, was ich so mache, dann komme ich ganz unausweichlich früher oder später auf Parzival zu sprechen.


Du kennst Parzival nicht? Macht nichts: Ich erzähls dir gerne! (Und wenn du ihn schon kennst, kannst du den nächsten Abschnitt überspringen – also, wenn du in Eile bist.)


Parzival ist – kurz gesagt – ein blutjunger Ritter (die Geschichte stammt aus dem 12. Jahrhundert), der unterwegs (heim zu seiner Mutter) auf einer Burg einkehrt. Alles dort ist ein bisschen seltsam und der Burgherr ganz offensichtlich krank. Parzival hat nun aber vor kurzem eine Schnellbleiche in höfischem Benehmen absolviert und sein Lehrmeister hat ihm geraten, nicht zu viel zu fragen: Das mache sich nämlich nicht gut. – Und er solle auch nicht ständig sagen: Meine Mutter hat gesagt ... Als guter Schüler wundert sich Parzival nun also im Stillen und hält den Mund – obwohl es wirklich einiges gibt, was sehr merkwürdig ist (zum Beispiel die Prozession mit der blutigen Lanze). Aber Parzival lässt sich auch davon nicht zu einer Bemerkung verleiten und übersteht den Abend in formvollendeter höfischer Manier. Der Hammer kommt am nächsten Morgen. Als Parzival erwacht, ist die Burg leer, keine Sau mehr da. Nur sein Pferd steht fertig gesattelt im Hof. Daneben sein Schild und was man als Ritter so braucht. Parzival ist verwirrt, ruft durch die leeren Gänge, sucht nach den Menschen, aber dann zuckt er mit den Schultern und zockelt davon. Im nahen Wald trifft er auf eine Einsiedlerin, die ganz erstaunt ist, dass er auf dieser Burg übernachtet hat – es handelt sich dabei nämlich um die Gralsburg, die nur alle hundert Jahre (oder so) von jemandem gefunden wird. Ganz aufgeregt fragt sie, ob er denn dem Gralskönig die Frage gestellt habe. Parzival so: Frage? Was für eine Frage? Und Sigune (so heißt die Gute, die sich am Ende als seine Cousine herausstellt) antwortet: Natürlich die Frage, was dem König fehlt! Junge, hast du denn nicht gesehen, dass der arme Kerl todkrank ist? Das hat Parzival schon gesehen - und der König hat ihm auch leidgetan - aber eben, er sollte ja nicht fragen … Sigune sieht das anders und entlässt ihn mit dem bleischweren Wissen, dass seine Frage ein ganzes Königreich von unermesslichem Leid erlöst hätte. Aber damit nicht genug. Auf seiner weiteren Reise trifft Parzival auf die Artusgesellschaft (ja genau, König Artus mit der runden Tafel), die ihn jubelnd willkommen heißt (das ist für einen Ritter dieser Zeit wie für eine Schauspielerin der erste Oscar). Parzival glaubt, am Ziel all seiner Wünsche angelangt zu sein. Aber mitten ins fröhliche Festmahl zu seinen Ehren platzt eine äußerst hässliche Botin (quasi eine Party-Crasherin), die Parzival vor versammelter Menge verflucht. Und zwar: Weil er die Frage nicht gestellt hat. Und der einzige in hundert Jahren (oder so) gewesen wäre, der das gekonnt hätte. Und das ist es dann gewesen mit Parzivals Teilhabe an der Gesellschaft. Seine Ehre ist öffentlich ruiniert – obwohl er alles richtig gemacht hat. Zutiefst beschämt, verwirrt und wütend verflucht er Gott und sein Schicksal und wendet sich von der Welt ab, um die nächsten Jahre einsam und verbittert umherzuziehen.


Als ich die Geschichte neulich einem Freund erzählte und auch erwähnte, dass sie mich schon mein Leben lang begleitet, fragte er an diesem Punkt unvermittelt: Was ist denn die Frage, die du nicht gestellt hast?


Uff. So hatte ich das noch nie gesehen. So weit wäre ich dann doch nicht gegangen, mit meiner Ähnlichkeit zu Parzival. …. Aber ich spürte, dass er recht hat. Ich musste nach dieser Frage suchen, sonst würde ich mein bereits zehnjähriges Manuskript nie beenden können (das ist nämlich im weitesten Sinn eine Parzivaladaption – aber davon ein anders Mal).

Ich nahm mir vor, mich damit zu befassen, aber ich wusste nicht recht wie. Also schob ich es auf. Bis die Geschichte mit den Fotos aufkam (wenn du sie nicht kennst, kannst du sie hier nachlesen) und plötzlich habe ich den Zusammenhang verstanden: Ich war wie Parzival, damals, als ich verletzend zu Maria war: Ich habe ihr Leid gesehen, aber nicht danach gefragt.


Ich habe nicht gefragt "waz wirret dir?"* – Was fehlt dir? Was brauchst du? Geht es dir gut?


Stattdessen habe ich sie verletzt und ihre Antwort war mein Fluch. Denn nicht die Gesellschaft hat mich ausgeschlossen, sondern ich mich selbst – aus Scham. Aus Scham habe ich mich zurückgezogen, mich unsichtbar gemacht. Aus Scham habe ich mir selbst versichert, dass ich niemanden brauche außer mir selbst. Dass mir die anderen egal sind. Genau wie Parzival, der jahrelang einsam durch die Einöde irrt und hie und da einen erbitterten, freudlosen Kampf ausfechtet. Unerreichbar für seine Freunde und Verwandten, die all die Zeit nach ihm suchen.


Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Denn jahrelang habe ich angefangen zu weinen, wenn mich jemand gefragt hat, wie es mir geht. Ohne Grund. Ich hatte noch nicht mal das Gefühl, dass es mir besonders schlecht ging. Ich machte einfach die Erfahrung: Wenn mich das jemand fragt, dann fließen die Tränen. Dass es die Frage selbst war, die sich gemeldet hat, verstehe ich erst jetzt. – Und bin zutiefst fasziniert.

Fasziniert und dankbar. Dafür, dass Wolfram von Eschenbach das Parzival-Epos gedichtet hat, so dass es 700 Jahre später zu mir gelangt ist und mir dabei hilft, mich besser zu verstehen. Gerade so, als wäre es allein für mich geschrieben. Denn diese Geschichte lässt mich auf einer Ebene, die nichts mit dem Verstand zu tun hat, verstehen, was Anteilnahme bedeutet und dass gesellschaftliche Konventionen mich niemals daran hindern sollen, mich jemandem wahrhaft zuzuwenden – von Herz zu Herz – und zu fragen: Was brauchst du?

Nicht Höflichkeit ist der Massstab des Herzens, sondern der Impuls, der aus dem Inneren kommt. Das, was jetzt gerade ist, was ich sehe, was ich spüre und das, worauf ich reagieren will.


Die Frage nach der Frage ist nur ein Bruchteil dessen, was der Parzival für mich und mein Leben bedeutet. Und jedes Mal, wenn ich einen solchen Bruchteil finde, ist es ein kleiner Schritt darin, mich der Welt noch mehr als die zu zeigen, die ich wirklich bin. So wie Parzival, der nicht der bleibt, den die Gesellschaft (in bester Absicht) aus ihm geformt hat, sondern ein wahrer Held wird, der immer mehr zu seiner wahren Größe findet.




Und wenn du jetzt Lust bekommen hast, die Heldin in deinem Leben zu werden, dann schau unbedingt hier vorbei!



*so steht es im mittelhochdeutschen Originaltext

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